Bericht über den

Fachtag 2023

Palliativversorgung: Komplexität ist unser Alltag

17. Mai 2023

Nach zwei Jahren Online-Fachtag konnten wir dieses Jahr endlich wieder die Teilnehmenden im Hospitalhof Stuttgart vor Ort begrüßen.

Rund 240 Personen kamen am Morgen des 17. Mai 2023 im Paul-Lechler-Saal zusammen, um von Susanne Haller, der Leiterin der Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie, zum 14. Fachtag begrüßt zu werden, umrahmt von der Musik von Mike Schweizer. Besonders an diesem Fachtag war auch, dass es zum ersten Mal eine Hybrid-Veranstaltung war – für die beiden Vorträge am Vormittag war auch eine Online-Teilnahme möglich.

Vorträge

Die beiden Vorträge am Vormittag wurden aufgezeichnet und können auf Youtube angesehen werden:

Vortrag #1: Bitte Vielfalt – keine Monokultur – Komplexität als Chance?

Die erste Referentin des Fachtags war Dr. med. Marion Daun. Zu Beginn des Vortrags klärte sie, was „Komplexität“ ist beziehungsweise bedeutet. Dazu zog sie das Bild eines Puzzles als Beispiel heran, zusammen mit der passenden Beschreibung „das Ineinander vieler Merkmale“. Komplexität in Palliative Care entsteht durch viele Aspekte: durch die Patient*innen in ihrer Individualität, die Zugehörigen, die Caregiver, das sozio-kulturelle Setting – um nur einige Beispiele aufzuzählen.

Wie kann ein Umgang mit dieser Komplexität aussehen? Frau Dr. Daun formulierte zwei grundsätzliche Punkte:

  • Jede*r Patient*in und damit auch jede Versorgungssituation ist einzigartig und bedarf somit eines anderen Wissens
  • Wir können nicht alles im Griff haben.

Es gibt bestimmte Verhaltensweisen, wie Menschen auf komplexe Situationen reagieren, die jedoch nicht zielführend sind, zum Beispiel die Fokussierung auf einen Schwerpunkt, sodass andere Aspekte beziehungsweise der große Zusammenhang nicht erkannt wird. Oder dass eine Person, die davon ausgeht, die Situation durchschaut zu haben, sich anderen gegenüber autoritär verhält. So können komplexe Situationen jedoch nicht gelöst werden.

Ihr Fazit zog sie mit einem Zitat von Friedrich Dürrenmatt:

„Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.

Vortrag #2: Ist das palliativ? Palliativversorgung bei und wegen schweren psychischen Erkrankungen

Nach einer Pause folgte der Vortrag von Dr. med. Anna Westermair B.Sc. Sie berichtete den Teilnehmenden von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen – untermauert mit Daten aus verschiedenen Studien – mit Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen mit Blick auf die Palliativversorgung dieser Menschen. Eine schwere und persistierende psychische Erkrankung führt einerseits dazu, dass der Zugang zum Gesundheitssystem im Allgemeinen (und damit auch zur Palliativversorgung), und andererseits die Versorgung an sich erschwert ist. Ursachen sind beispielsweise Antriebslosigkeit aufgrund der Erkrankung oder fehlende Ressourcen.

Besonders wichtig waren ihr in diesem Zusammenhang die folgenden Punkte:

Caregiver sollten nicht automatisch davon ausgehen, dass eine Person mit einer schweren psychischen Erkrankung nicht einwilligungsfähig ist. Es ist richtig, dass Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung ein erhöhtes Risiko haben, nicht einwilligungsfähig zu sein, jedoch bedeutet das nicht, dass sie nicht grundsätzlich dazu in der Lage sind. Nicht alle, aber viele können durchaus selbstbestimmt eine Entscheidung über ihre medizinische Behandlung treffen. Nichts desto trotz sollten Willensäußerungen nicht völlig unhinterfragt angenommen werden, denn diese können durchaus durch die Krankheit bedingt sein. Ein schwieriges Abwägen – und es führt gegebenenfalls dazu, dass sich die Caregiver ein Stück weit von der palliativen Grundhaltung „Respekt vor der Autonomie der Patient*innen“ lösen müssen. Abgeschlossen hat Frau Dr. Westermair ihren Vortrag mit Vorschlägen zur Verbesserung der Palliativversorgung für psychisch kranke Menschen und sie erläuterte, warum auch psychische Erkrankungen an sich eine Indikation für eine Palliativversorgung sein können.

In der anschließenden Mittagspause wurden die Teilnehmenden des Fachtags vom Team des Kulturwerk Stuttgart mit einem leckeren Mittagessen versorgt. So gestärkt, teilten sich die Teilnehmenden auf vier Foren auf. Von 13.45-15.45 Uhr wurde in den Foren komplexe Herausforderungen in der Palliativversorgung besprochen und diskutiert.

Foren

Forum 1

Forum 1: Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in der Palliativversorgung mit Dr. med. Anna Westermair B. Sc.

Der Untertitel zum Forum lautete: Wie Palliative Care-Teams Menschen mit Schizophrenie, Abhängigkeiten, Anorexie, Persönlichkeitsstörungen etc. begleiten können, ohne selbst »verrückt« zu werden. Frau Westermair gab den Teilnehmenden praktische Tipps an die Hand für den Umgang mit Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen: Einerseits erläuterte sie typische Verhaltensweisen von Menschen mit einer speziellen Erkrankung – sehr eindrücklich mit Erzählungen eigener Erlebnissen verdeutlicht – und andererseits erfuhren die Teilnehmenden gute Handlungsweisen, die sie selbst in ihrer Praxis anwendet.

Vertieft ging sie ein auf Abhängigkeiten, Anorexie und Persönlichkeitsstörungen mit dem Beispiel der Boderline-Erkrankung. Ein grundsätzlicher Hinweis war, dass Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung oft Mühe und Schwierigkeiten haben, Nähe und Distanz in zwischenmenschlichen Beziehungen zu regulieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Versorgende bereits bei der ersten Grenzüberschreitung freundlich und sehr klar darauf hinweisen. Bei verschiedenen Erkrankungen, beispielsweise bei einer Person mit einer Abhängigkeit oder mit Anorexie, ist beispielsweise ein Behandlungsvertrag eine gute Möglichkeit, Verhaltensweisen und den Umgang mit eventuell auftretenden/ befürchteten problematischen Verhaltensweisen im Vornherein mit den Patient*innen zu klären und dies schriftlich fest zu halten.

Forum 2

Forum 2: ALS – Die Krankheit der tausend Abschiede mit Susanne Brawand

Fachlich fundiert durch ihr 15-jährige Erfahrung als Pflegeexpertin in der Beratungsstelle für neuromuskuläre Erkrankungen am Uniklinikum Bern nahm uns Frau Susanne Brawand mit durch die Komplexität dieser Erkrankung. Sie sprach über Diagnostik, Symptome, mögliche Therapien und Hilfsmittel. Die wichtigste Hilfe ist die ständige Anpassung der Hilfsmaßnahmen und begleitenden Unterstützung an die laufende Verschlechterung. Wie Frau Brawand in ihrem Gedicht sinngemäß es ausdrückte: „Der Körper zerfällt – er kennt das Ziel, die Seele schreit ihm hinterher, sucht ihn, sucht das Ziel…“. Und weil das eben nicht nur den körperlichen Bereich, sondern auch die seelisch-psychische Ebene meint, kann die palliative Begleitung helfen, diese Spannung zwischen großem Lebenswillen und sehr begrenzter Lebenserwartung auszuhalten. Viele Fragen und Erfahrungsberichte aus dem Publikum machten dann deutlich, dass dies ein herausforderndes Anliegen für das gesamte Umfeld des Betroffenen ist. Hier bleibt das Resümee für die Begleitenden: helfen/ begleiten mit liebevoller Abgrenzung und guten Blick auf die eigenen Ressourcen!

Annegret Elminger

Der Körper zerfällt.
Der Körper weiß das Ziel.
Der Körper eilt ans Ziel.
Er lebt mit seiner Intelligenz.
Die Seele, sie hinkt hinterher.
Sie fragt sich, wo ist mein Körper geblieben.
Sie schreit, so bleib doch stehen.
Die Seele muss erlernen in Windeseile.
Die Seele muss das Ziel erkennen.
Der Körper zerfällt.
Die Seele erhält das Licht.
Doch dies zu sehen ist eine Aufgabe für jeden einzelnen
von uns.
Eine Aufgabe die nur jeder für sich alleine bewältigen kann.
Zu sehen, zu spüren, vertrauen, dass das Licht der Liebe da sein wird in der Stunde.
Susanne Brawand

Forum 3

Forum 3: Palliative Care und Parkinson. Wie kann das Gelingen? mit Dr. Katharina Maria Lex

Im Forum mit Frau Dr. Lex haben wir über die Stadien bei Morbus Parkinson gesprochen. Durch den schleichenden, oft sehr langsamen Progress dieser Erkrankung macht es Betroffenen und Beteiligten die Vorausplanung schwer. Die frühen Stadien 1+2 können über einen langen Zeitraum medikamentös und therapeutisch gut stabilisiert werden. Auch muss in diesen Phasen nach außen noch gar nicht viel über die Erkrankung gesprochen werden. Das Fortschreiten der Erkrankung bringt im Verlauf jedoch sehr viele Komplikationen und Risiken mit, weswegen das soziale Umfeld gleichzeitig gut darauf vorbereitet sein sollte. Hier kommt bei pflegenden Angehörigen immer wieder die Frage auf: „Ab wann denken wir palliativ“? Es bleibt immer eine Aufgabe von Palliative Care Fachkräften, die verschiedenen Phasen der Palliativpflege (Rehabilitationsphase, Terminalphase, Prä-/Finalphase) zu differenzieren und richtig zu kommunizieren. Therapien (z. B. Physiotherapie) sind bei Morbus Parkinson in der palliativen Rehabilitationsphase unabdingbar zur Linderung und Minderung von Symptomen und zur Stabilisierung und Sicherheit.

Im Anschluss daran haben wir uns in drei Kleingruppen darüber ausgetauscht, welche Chancen und Erfahrungen wir in der gesundheitlichen Versorgungsplanung sehen, wie wir mit Patientenverfügungen arbeiten und wie wir persönlich uns mit dem Thema der gesundheitlichen Versorgungsplanung auseinandersetzen.

Forum 4

Forum 4: Angehörige in der Palliativversorgung mit Prof. Dr. med. Karin Oechsle

In diesem Forum waren die Angehörigen im Fokus – Menschen, die in der Versorgung schwer kranker Menschen meist so selbstverständlich da sind. Die deutlichen Belastungen neben den großen Bedürfnissen dieser Personengruppe, stellte Frau Prof. Oechsle in ihrem interaktiven und lebendigen Forum anhand von Studien vor und hat die Wichtigkeit der Mitbetreuung Angehöriger als Grundprinzip der Hospiz- und Palliativversorgung unterstrichen.

Patient*in und Angehörige sind eine „Unit of care“ – eine Einheit, in der Angehörige eine Doppelrolle haben - als Versorgende und als Betreuende. Ergebnisse zeigen, Angehörige wollen in die Versorgung eingebunden und gleichberechtigt sein, sie wollen eine Stimme haben und gehört werden. Sie brauchen Informationen von und Austausch mit den Professionellen. So können sie auch durchhalten und eine tragende Säule in der Versorgung sein. Die Mitbetreuung Angehöriger ist auch Prävention. Wenn sie mit ihren Sorgen, Ängsten, körperlichen und psychischen Belastungen alleine gelassen werden, tragen sie ein deutlich erhöhtes Risiko, sowohl selbst zu erkranken, als auch eine erschwerte Trauer zu erleben.

Die Besucher*innen des Forums haben durch viele Beiträge und Fragen das Erleben im Alltag aus Sicht der Pflege, Seelsorge, Psychosozialen Arbeit und Beratung aufgezeigt und bestätigen können, was Frau Prof. Oechsles Untersuchungen zeigen. Empfehlungen in den S3 Leitlinien Palliativversorgung onkologisch Erkrankter zum Einbinden Angehöriger sind ein Wegweiser und können auf alle nicht-onkologische Erkrankungen übertragen werden. Angehörige brauchen ausführliche Informationen, gute Beratung, Austausch und Schulungsprogramme. Diese Angebote durch verbesserte Finanzierung ausbauen zu können, würden Lücken schließen und die Rolle der Angehörigen verbessern und ihnen Wertschätzung geben.

Wie es bei unserem Fachtag Tradition ist, kamen die Teilnehmenden nach den Foren und einer kurzen Kaffee&Kuchen-Pause im Paul-Lechler-Saal nochmals zum Abschluss des Tages zusammen. Andreas Herpich, Annegret Elminger, Johannes Rieger und Michaela Müller berichteten jeweils kurz über die von ihnen besuchten Foren. So erhielten alle einen Einblick in die Foren, an denen sie nicht teilgenommen hatten. Anschließend verabschiedete Susanne Haller alle Teilnehmenden mit dem Hinweis auf den Termin unseres nächsten Fachtages, der am 17. April 2024 stattfinden wird.

Es war ein rundum gelungener Fachtag – Dank allen Referentinnen, unseren ehrenamtlichen Helfer*innen, der tollen Verpflegung durch das Kulturwerk Ost, der technischen Unterstützung durch mad music, dem besonderen Kaffeegenuss durch das Café Hibou, des WALA- und Hospiz-Verlag-Tisches sowie der musikalischen Umrahmung durch Mike Schweizer.